Als der griechische Erziehungsminister Spyridon Stais im Mai 1902 im archäologischen Nationalmuseum in Athen einen bis dahin noch nicht näher untersuchten, stark korrodierten Bronzeklumpen zur Hand nahm, brach ein Stück des Klumpens ab – und gab den Blick frei auf ein erstaunlich gut erhaltenes Zahnrad mit nur 1,5 Millimeter hohen Zähnen, wie man es in einem modernen Uhrwerk vermuten würde. Der Klumpen aber stammte aus dem Wrack eines antiken Schiffs, das ums Jahr 70 v. Chr. in einer Bucht der vor der Südspitze Griechenlands gelegenen Insel Antikythera gesunken und 1900 von Schwammtauchern entdeckt worden war.
Zahnradgetriebener analoger Computer
Ein Präzisionszahnrad aus der Antike, das war für die Wissenschaft ein Schock und ein Rätsel. Erste plausible Antworten fand in den 1950er-Jahren der britische Physiker und Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price: Er erkannte, dass das ursprüngliche Gerät ein astronomischer Rechner gewesen war, die Grösse einer heutigen Tischuhr gehabt haben muss und über einen seitlichen Drehknopf angetrieben worden war. Heute, nach aufwändigen Untersuchungen der insgesamt 82 gefundenen Fragmente, darunter hoch auflösenden, Metall durchdringenden Computertomogrammen, weiss man: Der Mechanismus von Antikythera war ein aus Bronze gefertigtes mechanisches Kalendarium, ein zahnradgetriebener analoger Computer, in dessen Platinen Skalen und Texte zu den einzelnen Funktionen eingraviert waren.
Auf der einen Seite befand sich ein Sonnenkalender mit Datumsanzeige. In einen der Zeiger eingelassen war eine sich drehende, zur Hälfte versilberte Kugel, welche die Mondphase anzeigte. Das Zifferblatt trug eine statische Anzeige mit den 12 Tierkreiszeichen und eine Ringskala für die 365 Tage des Jahres, wie sie der ägyptische Kalender vorsah, mit 12 Monaten zu 30 Tagen plus fünf Zusatztagen. Diese Skala war beweglich, um den einmal in vier Jahren auftretenden zusätzlichen Schalttag berücksichtigen zu können. Die andere Seite des Apparats zeigte zwei weitere Anzeigen: oben einen grossen spiralförmigen Mondkalender mit dem nach dem griechischen Astronomen Meton benannten 19-Jahre-Mondzyklus. Darunter befand sich die ebenfalls spiralförmige Anzeige eines grossen Eklipsenkalenders zur Darstellung von Sonnen- und Mondfinsternissen. Und schliesslich fand sich innerhalb der Mondkalenderanzeige noch eine kleine Vierjahresanzeige des Olympiadenkalenders, welche die Austragungen der panhellenischen Spiele mitsamt dem jeweils wechselnden Austragungsort angab.
Nachbau des Mechanismus von Antikythera
Für die Wissenschaftsgeschichte stellt der Mechanismus von Antikythera einen der bedeutendsten Funde überhaupt dar, weil er beweist, dass Ingenieurskunst und Mechanik im alten Griechenland auf einem Niveau waren, das Europa erst 1500 Jahre später wieder erreichen sollte. Zu Lehr- und Studienzwecken hat IMP-Dozent Thomas Weibel den Mechanismus von Antikythera unter https://www.thomasweibel.ch/antikythera nachgebaut. Der virtuelle Apparat dreht sich um seine eigene Achse und gibt den Blick frei auf das detailgetreu nachgebildete Getriebe, die aufwändig gravierten Zifferblätter und Zeiger. Die Animationsgeschwindigkeit beträgt ein Kalenderjahr in einer Minute.